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Als der Pöstler mit der «zweirädrigen Postkutsche» vorfuhr

René Murri (1934-2023) ist im Mühlethal aufgewachsen und war - neben seiner Arbeit als Tiefdruckretuscheur bei Ringier in Zofingen - auch schriftstellerisch tätig. Das Zofinger Neujahrsblatt hat 1963 einige seiner Erinnerungen an sein Heimatdorf abgedruckt.

Zofingen Die 76. Folge der beliebten Mühlethaler Geschichten

Nach der Geschichte Nummer 37 vom Brand des letzten Mühlethaler Strohdachhauses im «Seiler», die Ende 2020 im «Wiggertaler» erschienen ist, folgt hier René Murris Kapitel über die Post: «Die Post ist da…!» Dies war für uns Kinder ein Zauberwort – ein Moment voller Spannung und froher Erwartung. Selbst für die erwachsenen Dorfbewohner war die elfte Morgenstunde ein ersehnter Augenblick. Wenn sie es auch nicht immer wahr haben wollten. Entschlüpfte doch der einen oder anderen Mutter beim Elfuhrläuten der Befehl: «Geh, Hans oder Lieschen, hol rasch die Post, wir wollen schauen, was es Neues gibt!» Denn mit dem Einläuten des Nachmittages, das in Mühlethal um elf Uhr geschicht (warum, weiss glaube ich niemand mehr), vernahm man auch ein Hupen und das Geknatter eines alten Motorrades unten an der «Neuenstrasse». Bald darauf zog der Postillion seine elegante Auslaufschlaufe auf dem Dorfplatz, um immer an der gleichen Stelle seine zweiräderige «Postkutsche» anzuhalten. Ich glaube, man hätte einen Zweimeterkreis ausstecken und markieren können, und es wäre in den vielen Jahren seiner Dienstzeit nie vorgekommen, dass er ausserhalb der Markierung parkiert hätte. Nur ganz ausserordentliche Fälle konnten ihn dazu bewegen, seinen gewohnten Freiluftpostplatz zu wechseln. Kaum hatte er jeweils sein Motorrad abgestellt und den Strick über dem umfangreichen Weidenkorb gelöst, der an Stelle des hinteren Sitzes aufmontiert war, so standen auch schon die «Delegationen» der Dorffamilien abwartend rings um ihn. Und niemand fehlte, ob es stürmte, regnete oder ob die Sonne lachte. Buben und Mädchen oder auch die Hausfrau selbst, wenn gerade kein Kind aufzutreiben war, betrachteten dann mit kritischen Augen das beinahe rituelle Öffnen der nach Wohngebieten gebündelten und verschnürten Postpakete. Was konnte heute die Post alles bringen? Gab es Ärger mit Rechnungen, gab es Briefe von Verwandten oder sogar ein kleines Päcklein? Er allein wusste es – er unser «Pösteler».

Keine alte Burg, aber schöne Geschehnisse

Die Spannung stieg bis zum Kribbeln, wenn er mit freundlicher Stimme und mit seinem bekannten Schmunzeln die Namen aufrief, und sie verebbte so wohltuend langsam, wenn er uns dann mit guten, manchmal vielleicht auch mit schlechten Nachrichten versehen entliess. Wir liebten es, das ganze Drum und Dran, freilich, es war alltäglich, aber es war für uns Dörfler die einzige Abwechslung, und stellte jeden Tag ein neues Erlebnis dar. Es war ein kleines Stück Tradition («Nanu – Tradition!» mögen Sie jetzt sagen, «das ist aber fadenscheinig.» Oh, gar nicht, im Gegenteil!) Nicht jedes Dorf hat eine alte Burg oder irgendeine altüberlieferte Begebenheit. Wir in Mühlethal hatten nur kleine, aber schöne Geschehnisse, die wir aber umso mehr liebten und umso sorgfältiger zu wahren suchten. Und sie verleihen dem Dorf, teilweise noch heute, eine besondere Eigenart, einen ganz bestimmten Charakterzug.»

In Murris Jugend war übrigens Fritz Bolliger Posthalter. Ein Bild von ihm auf dem Pferdeschlitten ist in der letzten Mühlethaler Geschichte erschienen. Auch Bolligers Nachfolger Werner Roth, der 1956 die Mühlethaler Post übernahm, war zu Beginn noch mit dem Motorrad unterwegs.